Bücher schreiben: Tipps für die Figurenentwicklung im Roman
Jedes Buch lebt von seinen Charakteren. Gute Haupt- und Nebenfiguren erwecken entweder tiefe Verbundenheit oder Ablehnung bei den Leser:innen, man fiebert mit ihnen mit, leidet mit ihnen und bangt um ihr Leben – oder wünscht ihnen den Tod. Mit diesen Tipps schaffst du es, glaubwürdige und funktionierende Protagonisten zu zeichnen.
Ein Gastartikel von Shortlist-Kandidatin Mira Valentin des Selfpulishing-Buchpreises
Jaime Lennister war drei Staffeln lang mein Hass-Charakter bei Game of Thrones. Ein böser Mensch, der kleine Kinder aus Turmfenstern stößt, Sex mit seiner Schwester hat und überdies ein arroganter Schnösel in einer goldenen Rüstung ist – also ein klassischer Antagonist, so denkt man. Nun hat aber der große George R. R. Martin das Wunder vollbracht, dass ich einige Staffeln später zitternd und Fingernägel kauend um Jaimes Leben gebangt habe. Warum? Weil der Autor seinem Charakter Tiefe verliehen hat, weil er ihn weiterentwickelt und den Leser:innen seine innere Beweg– und Abgründe vor Augen geführt hat. Und dabei wären wir beim ersten Punkt.
Romanfiguren Tiefe verleihen
Tiefe verleihst du einer Figur in zwei Schritten.
- Schritt 1: Verdeutliche ihre inneren und äußeren Besonderheiten. Gib ihnen Liebenswürdigkeiten, aber auch Macken. Nichts ist so uninteressant wie ein wahnsinnig gutaussehender und kluger Held, der immer alles richtig macht (außer vielleicht ein Zauberer, dessen Magie unbezwingbar ist).
- Schritt 2: Zeige ihre Menschlichkeit, erzähle ihre Vergangenheit, erkläre ihre Motive. Dann lass sie mit ihren Problemen kämpfen und verändere sie.
Jaime wächst ab dem Punkt, an dem er seine Schwerthand verliert. Ein solcher Plottwist ist immer gut, um eine Charakterveränderung zu starten. Ebenso kannst du eine Szene schreiben, in der einschneidende Erlebnisse aus der Kindheit der Figur beleuchtet werden und der Leser erkennt, welche womöglich schrecklichen Erfahrungen hinter ihrem Verhalten stecken. Oder du lässt deine Protagonist:innen aus einem höheren Beweggrund eine fatale Entscheidung treffen – wie Anakin Skywalker, der aus Liebe der dunklen Macht verfällt. Held:innen, die zu Bösewichten werden, sind ebenso spannend wie Bösewichte, die zu Held:innen werden. Das spannendste aber ist eine Figur, die bis zum Ende zwiespältig bleibt.
Rule-Breaking schafft Nähe
Auch Leser:innen selbst haben Ecken und Kanten und Unzulänglichkeiten. Erkennen sie diese in deinen Protagonist:innen wieder, werden sie sich eher mit der Figur identifizieren. Rule-Breaking ist das Brechen mit gängigen Regeln oder Klischees. Im Bereich der Charaktere bedeutet das: Lass den Wikinger seekrank sein, den Millionär dick oder den Kommissar eine Lese-Rechtschreib-Schwäche haben. Das macht sie interessant und schafft Konflikte, die du in ebenso interessanten Szenen ausbauen kannst. Aber Achtung: Überfordere die Leser:innen nicht! Kleine Schwächen darfst du jedem Charakter mitgeben, extremeres Rule-Breaking sollte nicht überstrapaziert werden. Ein oder zwei besonders ungewöhnliche Figuren pro Buch reichen, sonst steigt die breite Masse der Leserschaft aus. Bedenke: Seit Anbeginn der Zeiten werden Geschichten von gewissen Archetypen getragen, die man grundsätzlich kennen und schätzen sollte – und dann nur in den erwähnten Ausnahmefällen durch Rule-Breaking verändert. Solche Archetypen sind beispielsweise der Liebende, der Herrscher, der Weise, der Narr, der Held oder der Rebell.
Äußere Merkmale
Nicht nur innerlich, auch äußerlich sollten deine Romanfiguren hervorstechen. Überlege dir genau, wie sie aussehen und welche unverwechselbaren Kennzeichen (dazu zählt auch Gestik und Mimik) sie haben. Erstelle einen Charakterbogen, wenn du dir nicht alles merken kannst. Augenfarbe, Haarfarbe und Alter sind nur der Anfang. Dazu kommen Merkmale wie krumme Nase, markantes Kinn, blasse Hautfarbe, Zahnlücken, Muttermale, aufrechter Gang, Rotwerden, Fingernägelbeißen und, und, und. Manch einer fängt gerne Sätze mit „Hmmm“ an oder massiert sich beim Denken ständig die Schläfe. Achte darauf, dass die Gewohnheiten und Äußerlichkeiten zum Charakter passen. Ein Elbenprinz sollte zum Beispiel nicht beim Essen schmatzen – es sei denn, er ist die besondere Rule–Breaking-Figur im Buch.
Antrieb und Konflikte
Jeder – ich betone – jeder Charakter im Buch braucht einen klaren Antrieb. Warum tut er das, was er tut? Warum verhält er sich so? Was will er erreichen? Prallen mehrere Antriebe aufeinander, so entstehen Konflikte, welche die Story vorantreiben und die Leser:innen bei der Stange halten. Game of Thrones ist auch hier wieder das beste Beispiel dafür, wie die Antriebe verschiedener Menschen derartig aufeinanderprallen können, dass am Ende ein ganzer Kontinent im Krieg liegt.
Ich versuche einmal, die tiefsten menschlichen Emotionen zusammenzufassen, die einen Antrieb bewirken. Diese sind: Liebe, Hass, Gier, Neid, Überlebenswille und religiöse Verblendung. Unter diese sechs Oberbegriffe fallen alle weiteren Beweggründe wie beispielsweise Lust, Rachsucht, Eifersucht und Machtstreben.
Don’t kill the cat!
Nicht nur Menschen, auch Tiere sind wichtige Buch-Charaktere. Als Nebenfiguren gewinnen sie die Herzen vieler Leser:innen, besonders dann, wenn sie ein bisschen kauzig und schräg sind. Für sie gilt die Antriebs-Regel nicht zwangsläufig, sondern sie können auch einfach als nettes Beiwerk auftauchen. Tragen sie zu einem Plottwist, also einer unerwarteten Wendung bei – umso besser. Genau wie bei kleinen Kindern gilt jedoch: Tiere bitte nicht umbringen, wenn man sich anschließend als Autor noch in der Öffentlichkeit zeigen will!
Was tun, wenn ein Charakter misslingt?
Alle anderen Figuren kannst du töten – entweder, um die Leserherzen bluten zu lassen, oder weil die Figur zu blass bleibt („Bauernopfer“). Geliebte Protagonist:innen sollten auf ehrenvolle Weise fallen und dieser Tod muss ausreichend zelebriert und immer wieder thematisiert werden. Bitte sparsam mit solchen Morden umgehen, denn niemand liest ein Buch weiter, aus dem alle Identifikationspersonen getilgt sind.
Was gar nicht geht: die Hauptfigur komplett demontieren, indem sie auf schlimme Weise gefoltert, verstümmelt oder psychisch gebrochen wird.
Mira Valentin
Mira Valentin war jahrelang Journalistin für Jugend-, Frauen- und Pferdezeitschriften. Seit 2018 schreibt sie hauptberuflich Fantasybücher – ein Traum, den sie seit ihrem zwölften Lebensjahr verfolgt. Gemeinsam mit Sam Feuerbach und Greg Walters bildet sie die Autorenvereinigung „Weltenbauer“. In der Öffentlichkeit tritt sie grundsätzlich in einem Cosplay auf, das entweder eine Figur aus ihren eigenen Büchern zeigt oder die Protagonisten befreundeter Autoren darstellt.
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